URL dieses Beitrags:

Lesezeichen bei Google setzen Link auf Facebook teilen
Fachartikel aus MECHATRONIK 9-10, S. 6 bis 9

Maxon Motor

„Ein Schlaraffenland für Ingenieure“

Ein kleines Start-up wirbelt gerade den Handprothesenmarkt durcheinander. Mit Innovationswillen, kompakten DC-Motoren und einer Tastfunktion.

Bild: Kartin Mertens / maxon motor
Leistungsstarke, kompakte und langlebige Elektromotoren sorgen für mehr Bewegung bei bionischen Handprothesen. (Bild: Kartin Mertens / maxon motor)

Die Herausforderungen beginnen bereits beim Öffnen der Türe. Die menschliche Hand umschließt den Griff, drückt ihn herunter und bewegt sich flexibel. Eine elektromechanische Handprothese dagegen ist steif. Wenn sich die Türe bewegt, führt das zu großen Krafteinwirkungen auf den einzelnen Fingern. Eine gute Prothese muss deshalb aus hochwertigen Materialien und Komponenten bestehen. Davon ist Stefan Schulz überzeugt. Er ist Gründer und CEO von Vincent Systems, einem Start-up in der deutschen Stadt Karlsruhe mit zehn Mitarbeitenden. Und wenn es um Handprothesen geht, weiß Schulz Bescheid. Seine erste elektromechanische Prothese baute er 1999, als er noch am Karlsruher Institute of Technology (KIT) tätig war. Zehn Jahre später folgte der Wechsel in die Privatwirtschaft.

In den bionischen Handprothesen kommen bis zu sechs bürstenbehaftete DC-Motoren von Maxon Motor zum Einsatz. So kann jeder Finger einzeln bewegt werden. 

Inzwischen ist bereits die dritte Generation der Handprothesen von Vincent Systems erhältlich. „Sie ist leichter und kompakter als andere Modelle und wiegt praktisch gleich viel wie die menschliche Hand“, so Schulz. In ihrer kleinsten Ausführung ist sie sogar für Kinder geeignet – der jüngste Träger ist gerade mal acht Jahre alt. Trotzdem, und das ist das Besondere, handelt es sich um eine bionische Hand. Heißt: Jeder einzelne Finger wird aktiv mit einem DC-Motor angetrieben, der Daumen sogar mit zwei Stück. Da sich die Motoren direkt im Finger und Daumen befinden, können bei Patienten auch einzelne fehlende Finger ersetzt werden. Und noch etwas macht die Hand von Vincent Systems besonders: Sie ist die erste kommerziell erhältliche Prothese, die ihrem Träger ein Feedback gibt, wie stark er zugreift. Das geschieht mit kurzen Vibrationsimpulsen. Würde die Hand einfach gleichmäßig vibrieren, könnte sich der Mensch schnell daran gewöhnen und das Signal nicht mehr wahrnehmen.

Bild: Maxon Motor
Bei bionischen Handprothesen kann jeder Finger einzeln bewegt werden. (Bild: Maxon Motor)

„Das Produkt wird nie perfekt sein“

Die Aufgabe von Stefan Schulz und seinen Kollegen ist nie fertig, und dessen ist er sich bewusst. Als Ingenieur will er eine mechatronische Handprothese entwickeln, die dem menschlichen Vorbild möglichst nahe kommt. „Aber egal, was wir auch für Innovationen konstruieren, es handelt sich im Vergleich zum menschlichen Vorbild im Endeffekt immer um einen Kompromiss. Das Produkt wird nie perfekt sein. Es geht immer noch besser.“ Das entmutigt ihn keineswegs. Im Gegenteil: Es ist ihm Ansporn für seine tägliche Arbeit. Und wohl auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Vincent Systems. Denn im Verlauf der noch jungen Firmengeschichte von Vincent Systems haben die Ingenieure die Handprothese schon mehrfach komplett überarbeitet – um die Rückmeldungen der Prothesennutzer einzubeziehen sowie aufgrund von neuen technischen Ansätzen. Und das scheint nicht einmal eine so große Sache gewesen zu sein, wenn man Stefan Schulz beim Erzählen zuhört. Als Ingenieur fühlt er sich sichtlich wohl in seinem Gebiet.

Die meisten Armprothesen sind heute noch so aufgebaut wie in den Sechzigerjahren. Damals kamen erste Prothesen mit Motoren und mit myoelektrischen Steuerungen auf den Markt. Mittels zweier Elektroden an den noch vorhandenen Muskeln kann der Träger entscheiden, ob sich die Greifer schließen oder öffnen. Angetrieben werden meist nur Daumen und Zeigefinger. Und daran hat sich lange wenig geändert. Auch weil viele Träger mit diesen einfachen Funktionen zufrieden waren. Deshalb sagt Stefan Schulz: „Die Welt der Prothetik lag lange im Schneewittchenschlaf und ist heute ein Schlaraffenland für Ingenieure.“ Er schätzt zwar die einfachsten Prothesenmodelle als robustes Hilfsmittel, ist aber überzeugt: „Den bionischen Prothesen gehört die Zukunft! Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden, also sollten wir sie nutzen, um den Kunden einen hohen Grad an Freiheiten zu ermöglichen.“

Maxon Motoren eine Spur kräftiger

Bild: Maxon Motor
maxon DCX 10 S, Ø 10 mm, 1 W, Edelmetallbürsten (Bild: Maxon Motor)

Gleichzeitig stellen Prothesen eine große technische Herausforderung dar, denn die verschiedenen Anforderungen widersprechen sich: hohes Drehmoment und hohe Geschwindigkeit bei kompakter Bauweise. Und das alles möglichst energiesparend. Entsprechend wichtig ist die Wahl der verbauten Elektromotoren. Vincent Systems setzt in seinen Händen bis zu sechs bürstenbehaftete DC-Motoren von Maxon Motor ein: so genannte DCX 10 Antriebe in Kombination mit modifizierten Planetengetrieben GP 10 A.

„Sie sind kompakt und für unsere Anwendung die Motoren mit der derzeit höchsten Energiedichte“, sagt Stefan Schulz. Zudem müssen die Antriebe etwas aushalten, fünf Jahre störungsfrei arbeiten. Obwohl sie jeden Tag auf viele Arten stark beansprucht werden. „Wir sind sehr zufrieden und haben vor, gemeinsam mit Maxon die Elektromotoren weiter für unsere künftigen Prothesen zu modifizieren.“

Bild: Maxon Motor
Prothesen stellen mit ihren Anforderungen an den Antrieb eine große technische Herausforderung dar. (Bild: Maxon Motor)

Wenn jeder Finger einzeln bewegt werden kann, ergeben sich für den Träger viele Möglichkeiten. Zwölf Griffmuster stehen zur Verfügung, die alle relativ einfach über Muskelkontraktionen abgerufen werden können – mit einem langen Halten des Muskelsignals oder einem Doppelimpuls zum Beispiel. Wichtig war Stefan Schulz, dass die Patienten dafür nicht die gesunde Hand zu Hilfe nehmen müssen. Denn: „Eine Handprothese soll den Träger unterstützen und nicht die Aufmerksamkeit der gesunden Hand beanspruchen.“ Die meisten Kunden kommen schon nach einer halben Stunde gut mit der Bedienung zurecht. Bis sie die Prothese wirklich intuitiv steuern können, dauert es einige Wochen oder Monate. Dann können sie Fahrrad fahren, Schuhe binden, rohe Eier halten – und natürlich auch Türen öffnen.